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Der tote winkel
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Kapitel 4

Sie hoffte, dass er Spaß daran haben würde. Vermutlich hatte er noch nie Preiselbeeren in einem schwedischen Wald gepflückt.
Mit ihrem rostigen VW fuhr sie zu dem Haus in der
Stigbergsgatan und parkte an der Bordsteinkante.
»Hallo, ich bin’s«, rief sie in die Gegensprechanlage. »Ich
komme runter«, antwortete eine Stimme in gebrochenem
Schwedisch.
Er küsste sie auf die Wangen, bevor sie sich ins Auto
setzten. Sie übernahm das Steuer.
»Wir fahren in einen Wald, der Lillhäradsskogen heißt«,
sagte sie. »Ich glaube zumindest, dass er so heißt, denn er
liegt in der Nähe von Lillhärad.«
»Ist das weit?«
»Zwanzig Kilometer vielleicht.«
Hinter dem Verkehrsknotenpunkt Skiljebo fuhr sie auf dem
Österleden Richtung Norden. Keiner von beiden merkte, dass
ihnen ein Auto folgte.
»Schau mal ins Handschuhfach«, sagte sie.
Er öffnete die Klappe und nahm eine kleine viereckige Kamera heraus.
»Das ist eine DV-Kamera.«
»DV?«
»Eine digitale Videokamera. Ich habe sie von meinem Papa
geliehen. Ich dachte, wir könnten im Wald filmen.«
»Sozusagen als Andenken?«
»Ja«, erwiderte sie und lachte. »Als Andenken.«
Sie bog auf den Skultunavägen ein und dann direkt hinter
der Kirche auf einen schmalen, kurvigen, aber immerhin geteerten Weg. Es ging über den träge dahinfließenden Svartån, und bald umgab sie dichter Wald.
»Lass uns hier in den Wald gehen«, sagte sie und hielt am
Wegesrand an. Er stieg aus, öffnete den Kofferraum und nahm
zwei Paar Gummistiefel und zwei Plastikeimer heraus.
»Brauchen wir die auch?«, fragte er und hob zwei rote Metallkästen mit Metallstangen auf einer Seite in die Höhe.
»Das sind Raffeln, sogenannte Beerenpflücker«, erwiderte
sie.
In Stiefeln stapften sie in den Wald. Sie versuchten, einen
Pfad zu finden, sahen sich aber gezwungen, über umgestürzte
Bäume zu klettern und unter den Zweigen dichtgewachsener
Tannen hindurchzukriechen. Erst nachdem sie lange spazieren
gegangen waren, lichtete sich der Wald zu einem Hang
hin, an dem Preiselbeeren wuchsen. Die Stille und der Geruch von feuchtem Laub umgaben sie.
Sie wusste, wie man die Raffeln benutzte. Er lachte über
seine eigene Ungeschicklichkeit. Als es ihm schließlich gelang, zumindest ein paar Beeren von den Pflanzen zu streifen, holte sie ihre DV-Kamera hervor.
»Das will sich deine Familie bestimmt gerne ansehen«,
sagte sie und beugte sich vor, um Nahaufnahmen seiner pflückenden Hände und seines Gesichts zu machen. Er warf den Kopf zurück und lachte in die Kamera.
»Jetzt zeige ich dir, wie es richtig geht«, sagte sie und steckte die Kamera in die Jackentasche. Sie machte sich systematisch an die Arbeit und hatte bereits ein Viertel des Eimers gefüllt, als sie zur Kuppe des Hangs gelangte. Er befand sich noch unten in der Senke und hatte eine wesentlich bescheidenere Ernte vorzuweisen. Als sie sich nach ihm umdrehte, sah sie, dass er auf einem Stein saß und rauchte. Sie wendete ihren Blick von ihm ab und schaute in die andere Richtung, über eine sandige Ebene. Wie eine Statue stand er da, der Elch. Gebannt starrte sie ihn an und zog langsam, ohne etwas anderes als den Arm zu bewegen, ihre DV-Kamera aus der Tasche und schaltete sie ein. Ihre Hände zitterten etwas, als sie den Zoom-Knopf suchte.
Nachdem sie den Elch im Kasten hatte, rief sie nach ihm.
»Jamal!«
Sie drehte sich um.
»Jamal?«

 

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