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Der Blinde Fleck
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Kapitel 3

3. KAPITEL
Als Elina am nächsten Morgen hinunterkam, um Kaffee zu trinken, saßen die alten Männer bereits an ihrem Tisch. Sie trugen dieselbe Kleidung wie am Vortag, so als hätten sie die ganze Nacht dort gesessen. Die Kellnerin, vielleicht war sie auch die Besitzerin, sprach kein Wort Englisch und kümmerte sich auch nicht weiter um Elinas Bemühungen, sich verständ¬lich zu machen. Stattdessen deckte sie wortlos den Tisch und brachte ihr Kaffee, Orangensaft, Brot und Käse an ihren Fens¬terplatz.
Elina blieb lange dort am Fenster sitzen. Ihr Kaffeebecher wurde wieder aufgefüllt, bevor sie ihn austrinken konnte. Die Bewohner des Ortes kamen und gingen, das Café hatte viele Gäste. Die Leute warfen dem Neuankömmling Blicke zu, die meisten grüßten sie sogar. Elina lächelte und erwi¬derte die Grüße. Eine Gruppe von Kindern mit bunten Ran¬zen überquerte den Platz, es gab also eine Schule im Ort. Traktoren und kleine Lastwagen kamen die Hauptstraße ent¬langgefahren. Junge Frauen in hübschen, modernen Kleidern bildeten einen scharfen Kontrast zu den Männern in derber Arbeitskluft.
Mittags läuteten die Kirchenglocken, und die Kellnerin stellte Elina einen Teller mit Spaghetti und Muscheln hin. Nach dem Essen bezahlte Elina und trat hinaus in die Sonne. Sie spazierte die steinigen Straßen der Ortschaft hinunter. Hinter dem letzten Haus erhob sich der Berg mit einer schier undurchdringlichen Vegetation. Sie entdeckte einen Pfad, der auf der Bergkuppe entlangführte. Zu beiden Seiten breiteten sich tiefe Täler mit Olivenhainen und vereinzelten Pinienbäumen unter ihr aus. Stundenlang spazierte sie durch die Gegend, und erst am späten Nachmittag kehrte sie in den Ort zurück. Sie kaufte in einem Laden einige Lebensmittel und bereitete sich in der kleinen Küche ein Abendessen zu. Während sie aß, hörte sie Radio, um Gesellschaft zu haben. Es lief ein Programm mit einer Talkrunde, in der zwei Männer und zwei Frauen miteinander diskutierten. Elina konnte einzelne Worte verstehen, die dem Englischen ähnelten oder sie an das bisschen Französisch erinnerten, das sie vor fast zwanzig Jahren in der Schule gelernt hatte. Als sich die Dunkelheit über die Stadt senkte, legte sie sich aufs Bett, ohne Licht anzumachen. Erneut spürte sie die Leichtigkeit ihres Körpers. Sie schwebte.
Die folgenden Tage und Wochen ähnelten einander bis zur Verwechslung. Elina folgte ihrem Vorhaben, einfach nichts zu machen. Sie stand mit der aufgehenden Sonne auf, ging mit Einbruch der Dunkelheit zu Bett und aß, wenn sie hungrig war. Sie saß im Café und wanderte über die Bergpfade. Nach der ersten Woche erweiterte sie schrittweise ihren Aktionsradi¬us. Sie fuhr mit dem Wagen in der Gegend herum, nicht um Neues zu entdecken, sondern nur um den Ablauf zu variieren.
Die Bewohner des Ortes schienen sich schnell an sie gewöhnt zu haben und ließen sie in Ruhe. Ihr begegnete niemand, der des Englischen mächtig war. Aber die paar italienischen Worte, die sie aufgeschnappt hatte oder die sie im Taschenlexikon nachschlug, genügten, um die wenigen, notwendigen Angelegenheiten zu erledigen. Sie sprach mit niemandem, und niemand suchte mit ihr ein Gespräch. Sie verbrachte die Zeit nicht mit Grübeln, sondern dachte nur an das, womit sie gerade beschäftigt war. Langsam bewegte sie sich auf einen Nullpunkt zu, an dem nichts mehr von Bedeutung war, außer einzig und allein der eigenen Existenz. Wohin sie der Weg von diesem Punkt aus führen würde, wusste sie nicht.
Etwa einen Monat später, an einem Sonntagmorgen im April, fuhr sie mit dem Wagen hinunter an die Küste. Die Nacht war kalt gewesen, und der Nebel hing schwer über dem Meer. Sie hatte das blaue Wasser im Golf von Taranto schon oft vom Berggipfel aus leuchten sehen. Doch an diesem Tag tauchte sie zum ersten Mal ihre Hand hinein. Sie spazierte am menschenleeren, steinigen Strand entlang. Es war windstill, und weit draußen zog ein Frachter vorüber. Elina fragte sich, was er geladen und welches Ziel er wohl hatte.
Im Laufe der vergangenen Woche hatte sich ihr Gemütszustand verändert. Während ihrer vielen Spaziergänge und Wanderungen hatte sie sich zunehmend Gedanken darüber gemacht, was aus ihr werden sollte, was sie als Nächstes tun wollte. Sie wusste, dass sie früher oder später eine Entscheidung treffen musste, wie ihre Zukunft aussehen sollte. Dazu musste sie ihr ganzes Leben überdenken. Dabei ging es nicht darum, jene Elina zu entdecken, die sie eigentlich war, so als wäre sie in Stein gemeißelt worden, die ursprüngliche und unveränderliche Elina. Sie wollte vielmehr verstehen, wie sie zu der werden konnte, die sie war. Sie war der festen Überzeugung, dass sie ein eigenes, inneres Wesen hatte, aber auch, dass sie von einschneidenden Erlebnissen und dem Willen anderer beeinflusst und geformt worden war. Ihr unangemessener Anspruch nach Perfektion, der sich einfach auf alles bezog, hatte mit ihrer Vorstellung davon zu tun, wie die Umwelt sie sah. Gleichzeitig aber war sie außerstande, den Forderungen und Wünschen anderer zu entsprechen, wenn sie es nicht selbst wollte. Der Gegensatz zwischen ihrem inneren und dem äußeren Anspruch hatte zu einer Art Implosion geführt. Der Druck hätte sie beinahe erstickt. Sie war im letzten Augenblick ausgebrochen. In der Einsamkeit bekam sie wieder Luft. Aber würde sie in der Lage sein, die notwendigen Veränderungen vorzunehmen?
»Es ist schön hier, nicht wahr?«
Elina zuckte zusammen und drehte sich um. Hinter ihr stand ein Mann.
»Ja«, antwortete sie zögernd. »Hier ist es sehr schön.«
Er ließ seinen Blick übers Meer schweifen. »Ich habe Sie am Strand spazieren gehen sehen. Ich bin auch oft dort unten. Ich genieße es, hier allein sein zu können. Vielleicht störe ich Sie ja gerade dabei?«
»Nein, gar nicht«, erwiderte Elina. Sie hatte seinen Blick ge¬sehen, er wollte ihr nichts Böses. Er trug seine dunklen Haare kurz geschnitten, so wie sie selbst. Seine Augenbrauen waren geschwungen, die Nase lang und gerade, er hatte einen brei¬ten, einladenden Mund.
»In ein paar Monaten kommen die Touristen«, sagte er. »Dann muss man sich andere Pfade suchen. Aber das macht nichts. Es gibt genug Platz für alle.«
»Wohnen Sie hier?«, fragte Elina.
Er drehte sich um und zeigte hinter sich.
»Ja, da oben in den Bergen.«
»Ich auch.«
Schweigend standen sie nebeneinander. Es war spät und Zeit aufzubrechen. Aber Elina konnte nicht.
»Haben Sie schon einmal erlebt, wie ein Sturm vom Meer über die Berge zieht?«, fragte er und fuhr fort, ohne auf ihre Antwort zu warten: »Dann erscheinen wir Menschen winzig klein. Ich habe es erlebt. Bei Sturm vermeide ich, das Haus zu verlassen.«
Er streckte ihr seine Hand entgegen.
»Vielleicht sehen wir uns mal wieder«, sagte er. »Leben Sie wohl.«
Leben Sie wohl war ein merkwürdiger Ausdruck zwischen Fremden. Als würden sie sich gut kennen und bald eine lange Reise antreten. Elina nahm seine Hand.
»Ich reise nicht ab«, antwortete sie. »Ich bin doch eben erst angekommen.«
Er lächelte sie an. »Ich weiß«, erwiderte er und ließ ihre Hand los, bevor die Berührung zu lange wurde. »Ich habe Sie schon gesehen. Oben im Ort. Sie haben im Café gesessen, und einmal sind Sie auf Ihrer Wanderung an meinem Haus vorbei¬gekommen. Ich wohne zwischen Monte Sant’Angelo und dem Nachbarort. Aber ich weiß nicht, wer Sie sind.«
»Ich heiße Elina.«
»Alex. Wie gesagt, vielleicht sehen wir uns wieder.«
Er drehte sich um und ging.

Am Morgen danach trank Elina wie jeden Tag ihren Kaffee an ihrem Stammplatz vor dem Fenster. Die Besitzerin, die Kellne¬rin war tatsächlich die alleinige Eigentümerin des Cafés, brach¬te ihr Baguettes, die noch ofenwarm waren. Sie hatte versucht, mit Elina zu plaudern, ihr Fragen über ihre Person zu stellen. Aber alle Versuche einer Unterhaltung waren aus Mangel an einer gemeinsamen Sprache gescheitert. Elina spürte dennoch, dass die Frau ihre Gesellschaft genoss, wie sie dort am Fenster wie eine schnurrende Hauskatze saß. Plötzlich stellte die Be¬sitzerin sich neben sie, sah hinaus und sah sie fragend an. Elina wurde bewusst, dass sie im Laufe des Vormittags immer wie¬der auf den Dorfplatz geschaut hatte und dass die Besitzerin darum wohl vermutete, sie würde nach jemandem Ausschau halten. Elina lächelte sie an und schüttelte den Kopf. Darauf¬hin kehrte die Wirtin zu ihrer Arbeit zurück.
Gegen elf Uhr verließ Elina das Café. Sie wanderte den Berg hinunter zur Landstraße. Die wenigen Häuser an der Straße wirkten wie Ausbrecher aus der Dorfgemeinschaft. Vor einem grauen Steinhaus stand ein alter Mann und fütterte seine Zie¬gen. Der Bauer und seine Tiere ähnelten sich sehr, im Ausse-hen und auch im Verhalten. Sie hielten in ihrer Bewegung inne und sahen der Passantin aufmerksam hinterher. Elina wan¬derte weiter bis zum Nachbarort, eine Strecke von mindestens zehn Kilometern, dann einen Berg hinunter und den nächsten wieder hinauf. Anschließend kehrte sie um. Der alte Mann und seine Ziegen waren verschwunden. Ihr begegnete auch kein anderer Mensch auf ihrem Heimweg.
Kurz vor der Dämmerung klopfte es an ihrer Tür. Als sie öffnete, stand die Wirtin davor.
»Vene, kommen Sie«, forderte die Frau sie auf und machte dieselbe Handbewegung wie am Tag ihrer ersten Begegnung. Elina folgte ihr die Treppen hinunter. In der Eingangshalle stand der Mann vom Strand.
»Es gibt einen Aussichtspunkt auf einem Berggipfel nicht weit von hier«, begrüßte er sie. »Ich dachte, vielleicht inter¬essiert Sie das.«
»Ich hole nur schnell meine Jacke«, antwortete Elina und lief die Stufen hoch in ihr Zimmer. Sie stiegen in seinen Wagen, einen roten Fiat älteren Bau¬jahrs. Er musste seine Beine anziehen, um Platz zu finden. Das Auto war seiner Größe nicht angemessen, aber vielleicht war es auch andersherum.
»Der Berg am Ende dieser Straße ist über 2200 Meter hoch«, erklärte er und startete den Motor. »Er heißt Monte Sant’Angelo, der Engelsberg, so wie der Ort, in dem Sie woh¬nen. Mit dem Auto kommen wir nicht bis auf den Gipfel, aber bis auf tausend Höhenmeter führt ein Weg.«
Elina hatte seit fast einem Monat mit niemandem gesprochen, sie war ziemlich verlegen. Und sie hatte Schwierigkeiten, ihn Alex zu nennen. Das klang für sie viel zu familiär, dabei kannten sie sich doch gar nicht. Ihm fiel es keineswegs schwer, sie beim Vornamen anzusprechen. Viele seiner Sätze begann er mit Elina, so als würde er ihren Namen kosten wollen.
Eine halbe Stunde später hatten sie ihr Ziel erreicht. Die Sonne war bereits untergegangen, aber der Himmel über dem Meer leuchtete noch. Es duftete nach Kiefernnadeln und Früh-lingsgrün. Sie setzten sich auf eine Bank, die viel mehr unter der Witterung als unter zu vielen Besuchern gelitten hatte.
»Ich mag die Berge lieber als das Meer«, meinte er. »Hier oben fühlt man sich freier. Die Gedanken haben mehr Raum sich zu entfalten. Das weiß jeder Philosoph.«
»Sind Sie einer?«
»Nein, aber ich habe viel Zeit nachzudenken. Ihnen geht das ähnlich, glaube ich. Sie haben sich auch für einen Berg entschieden, um Antworten auf Ihre Fragen zu finden.«
»Woher wissen Sie das? Dass ich auf der Suche nach Ant¬worten bin?«
Er lächelte sie an.
»Sie wohnen auf einem Berg und wandern. Sie wünschen sich, dass Ihnen die Antwort auf halbem Weg entgegen¬kommt.«
»Ja, vielleicht«, gab sie zu. »Aber ich mache mir gar nicht so viele Gedanken, wenn ich wandere. Genau genommen gar kei¬ne. Ich weiß nicht einmal, auf welche Frage ich eine Antwort suche. Ich glaube, die meiste Zeit bin ich einfach nur draußen und streife umher.«
»Die Leute im Ort reden über Sie«, sagte er. »Mir persönlich hat niemand etwas gesagt, ich habe nicht so viel Kontakt zu den Leuten. Aber ich habe die Bewohner im Café und in den Geschäften reden hören.«
»Aha? Und was sagen die so?«, fragte Elina.
»Sie nennen Sie die geheimnisvolle schöne Frau. Alle fragen sich, wer Sie sind und warum Sie hier sind.«
»Ich bin alles andere als geheimnisvoll.«
»Aber schön sind Sie.«
»So war das nicht gemeint«, sagte Elina verlegen und muss¬te lachen.
»Aber ich meine es so«, entgegnete Alex. »Ich habe Sie heu¬te zweimal an meinem Haus vorbeigehen sehen. Haben Sie mich gesucht?«
Elina ließ ihren Blick aufs Meer hinausschweifen, sie wollte ihm nicht in die Augen sehen.
»Darüber habe ich mir wohl auch nicht so viele Gedanken gemacht. Ich weiß ja gar nicht, wo Sie wohnen.«
»In dem Haus, das direkt an der Landstraße steht. Aber jetzt bin ich ja zu Ihnen gekommen.«
»Ja«, sagte Elina. »Das sind Sie.«

Die Straßenlaternen tauchten den Platz in ein gedämpftes Licht, als er sie zu ihrer Pension in Monte Sant’Angelo brach¬te. Sie blieb in der Tür stehen und sah dem davonfahrenden Auto hinterher. Sie hatten gar nicht verabredet, ob sie sich wiedersehen würden.

 

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