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Der Blinde Fleck
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Kapitel 2

2. KAPITEL
Die Sonne war schon längst untergegangen, als Elina aus dem Wagen stieg. Ihr Körper sträubte sich, wollte sich nicht dehnen. Sie war die Strecke mit nur wenigen Pausen in einem Stück durchgefahren. Die Autobahn quer durch Schweden bis zur Öresundbrücke, dann über die dänischen Inseln bis zum Fährhafen Rødby und schließlich eine Stunde Fähre bis zum deutschen Festland. Sie war erschöpft. Der Kontinent befand sich unter ihren Füßen, ihre Reise hatte begonnen.
Die Stadt hieß Oldenburg, und das Hotel mit seiner weiß verputzten Fassade sah gepflegt und preiswert aus. Sie bekam ein Einzelzimmer für vierundfünfzig Euro. Auf dem Bett brei-tete sie die Landkarte aus: Europa, wie ein verheißungsvoller Körper lag es vor ihr. Elina legte ihre Hand aufs Papier und ließ sie nach Süden wandern. Auf den Balkan, nach Griechenland, bis zur eigentlichen Wiege der Göttin Europa. Ihre Hand glitt weiter, über die vielen Orte mit unbekannten Namen. Sie fuhr über die unterschiedlichsten Gegenden: die Finger der Pelo-ponnes, Italiens Stiefelspitze, Portugals äußerste Landzunge.
Aus Gründen, über die sie sich selbst nicht im Klaren war, beschloss sie, nach Italien zu fahren. Sie würde durchfahren und nur anhalten, um zu essen und zu schlafen. Sie würde erst am richtigen Ort anhalten. Den würde sie erkennen, wenn sie ihn erreicht hätte.
Elina faltete die Karte wieder zusammen, löschte das Licht und streckte sich auf dem Bett aus. Sie fiel sofort in einen tie¬fen Schlaf.

Es war kurz nach acht Uhr, als sie am nächsten Morgen er¬wachte. Im Foyer des Hotels kaufte sie drei Postkarten. Sie schickte je eine an ihre Eltern, an Susanne und an Nadia. Auf allen stand dieselbe Nachricht. Sie würde für unbestimmte Zeit fortbleiben, aber es gäbe keinen Anlass zur Sorge. Dann zögerte sie einen Augenblick. Die Kollegen … Sie wollte auf keinen Fall, dass sie in dem Glauben, ihr sei etwas zugestoßen, eine Fahndung nach ihr ausriefen.
Also rief sie im Präsidium in Västerås an und ließ sich mit einer Mitarbeiterin in der Personalabteilung verbinden. Elina kannte sie nicht und wollte sich nicht lange erklären. Als sie gefragt wurde, welche Kategorie der Abwesenheitsmeldung sie nun einreichen wolle, erwiderte Elina, dass sie Urlaub oder dienstfrei eintragen könne, das würde keinen Unterschied ma¬chen. Im schlimmsten Fall, fügte sie hinzu, könnte sie auch kündigen. Die Frau am anderen Ende der Leitung war verwirrt und erklärte, dass diese beiden Kategorien der Abwesenheits¬meldung im Voraus angekündigt sein müssten. Die einzige un¬mittelbare und vom Arbeitgeber akzeptierte Form des Fern¬bleibens sei eine Krankschreibung. Elina widersprach, dass sie keineswegs krank sei. Die Mitarbeiterin der Personalabteilung ließ nicht locker und teilte Elina mit, dass sie die Frau Kom¬missarin ab dem Dienstag nach Ostern krankschreiben würde, wenn Elina nicht zur Arbeit erscheine. Und zwar ob sie das wolle oder nicht. Für die darauffolgende Woche könnte sie Ur¬laub einreichen, wenn sie das wünschte. Und sollte sie tatsäch¬lich kündigen wollen, müsste das schriftlich geschehen.
»Vielen Dank auch«, beendete Elina das Gespräch und schaltete ihr Handy aus.
Sie fuhr auf die Autobahn. Der Verkehr war nicht beson¬ders dicht, und sie erhöhte langsam die Geschwindigkeit. Als die Tachonadel die 150 berührte, überkam es sie, plötzlich und unerwartet. Das Gefühl von Freiheit. Der Körper begann zu schweben, sie hatte sich auf den Weg zu einem neuen Le¬ben gemacht, alles war möglich. Eine neue Zeitrechnung hatte begonnen. Es war ein intensiver Moment des Glücks.
Eine Stadt nach der anderen ließ sie hinter sich: Hamburg, Hannover, Kassel, Frankfurt, Stuttgart, Zürich. Erst auf der anderen Seite der Alpen hielt sie an, um die Nacht dort zu ver-bringen. Sie hatte Norditalien erreicht. Am Tag darauf setzte sie ihre Fahrt nach Süden fort. Sie gönnte sich nicht einmal einen kurzen Halt in Florenz, es trieb sie weiter. Am Morgen des dritten Tages, sie war in einer verlassenen Stadt irgendwo zwischen Rom und Neapel gelandet, fühlte sie sich außerstan¬de, aus dem Hotelbett zu steigen. Erst am späten Nachmittag verließ sie ihr Zimmer, um etwas zu essen. Dann kehrte sie zurück und sank erneut in einen erschöpften Schlaf.
Bei Sonnenaufgang erhob sich Elina, wusch sich und zog sich an. Ihr Körper hatte sich wieder erholt und war nun erfüllt von einer leichten, vibrierenden Spannung. Sie spürte, dass sie sich ihrem Ziel näherte. Nachdem sie einige Stunden auf der Autobahn nach Süden gefahren war, verringerte sie das Tempo, um nach einem geeigneten Rastplatz Ausschau zu halten. Einer Eingebung folgend bog sie auf eine kleinere Landstraße ab und ließ die Autobahn hinter sich. Nach etwa fünfzig Kilometern begann sich die Straße den Berg hinauf zuwinden. Sie hielt an, um die Ortsnamen auf ihrer Karte zu suchen. Sie erkannte, dass sie sich verfahren hatte. Statt auf dem Weg zur Stiefelspitze zu sein, führte sie diese Strecke zum Golf von Taranto, am Absatz des italienischen Stiefels. Sie überlegte, ob sie umkehren sollte, entschied sich dann aber dagegen. Vorsichtig setzte sie ihre Fahrt über Serpentinen fort und musste dabei einigen Ziegen die Vorfahrt lassen, die ihr und ihrem Wagen kaum Beachtung schenkten. Sie fuhr durch kleine Ortschaften, die sich an den Berg zu klammern schienen. Und sie fragte sich, wovon die Menschen hier lebten.
Die Straße führte durch eine kleine Stadt, und dahinter ging eine unbefahrene Abzweigung ab, auf der das Unkraut durch den brüchigen Asphalt ragte. Der Weg schlängelte sich den Berg hinauf. Als sie die Kuppe erreicht hatte, konnte sie un¬ter sich das Meer glitzern sehen. Sie entdeckte ein Schild, das zum Monte Sant’Angelo wies. Ohne zu zögern, bog sie ab. Sie fuhr an vereinzelten Häusern vorbei und erreichte nach eini¬gen Kilometern eine breitere, bebaute Straße. Diese endete auf einem Dorfplatz, der vom Rathaus und ein paar Geschäf¬ten gesäumt war. Elina parkte den Wagen und stieg aus. An einem Tisch auf dem Bürgersteig saßen vier alte Männer und blinzelten ihr in der Frühlingssonne entgegen. Auf der anderen Seite des Platzes tauchte eine ältere Frau in der Tür eines sand¬farbenen zweistöckigen Hauses auf. Sie winkte Elina ener-gisch zu sich. Dann drehte sie sich um und verschwand im Haus. Elina folgte ihr und wurde über zwei schmale Treppen hinauf zu einer verschlossenen Tür geführt. Dahinter befand sich ein Licht durchfluteter Raum, der auf den Platz zeigte. An der einen Wand stand ein blaues Sofa, und in der Mitte des Zimmers befanden sich ein Tisch und vier Stühle. Kein Fernseher, aber auf einem kleinen Schreibtisch entdeckte Eli¬na ein Radio. Eine Tür führte in ein kleineres Zimmer, in dem ein großes Bett und ein Nachttisch aus dunklem Holz standen. Am Ende des Flures befand sich eine kleine Küche mit einem Kühlschrank, der wie eine Katze schnurrte. Neben dem Spül¬becken stand ein Gasherd.
Die Frau lächelte Elina an und nickte, so als würde sie auf eine Antwort warten. Elina sah sich in der kleinen Wohnung um und erwiderte dann das Nicken. Die Frau lächelte wieder und machte mit der Hand eine Bewegung, als würde sie eine unsichtbare Tasche hochheben. Elina verließ ihr neues Zuhause und holte die Reisetasche aus dem Wagen. Sie warf sie aufs Bett und begann, ihre Kleidungsstücke auszupacken. Sie war angekommen.

 

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