Der Sonntagsmann
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Kapitel 5
Ein Paket für dich. Beim Hausmeister.«
Es dauerte nur zwei Tage, bis die Ermittlungsakten aus
Piteå eintrafen. Sie waren sorgfältig in einen Karton verpackt, der Elina, als sie ihn das erste Mal anhob, zehn Kilo schwer zu sein schien, und fast doppelt so schwer, als sie ihn in ihr Büro trug. Sie schob die Papiere auf ihrem Schreibtisch mit einer Hand beiseite und ließ das Paket fallen. Mit einem Brieföffner schlitzte sie das Klebeband auf und öffnete den Karton. Obenauf lag ein Brief, den ein Kriminalkommissar aus Piteå unterzeichet hatte:
»Beschlagnahmte Gegenstände vom Tatort, d.h. Briefe, persönliche Gegenstände etc. liegen weiterhin bei der Polizeibehörde in Piteå. Sichergestelltes humanbiologisches Material befindet sich im Staatlichen Kriminaltechnischen Labor in Linköping. Die Fotos liegen dieser Sendung bei.«
Wie eine Mitteilung aus dem Weltall, dachte Elina. Sie blätterte die Papierstapel durch und überschlug rasch: etwa 3000 Seiten.
Mehr als eine unwesentliche Freizeitbeschäftigung, dachte
sie und schaute auf die Uhr. Es war zehn. Um eins musste
sie eine Frau vernehmen, die ihren Mann zum dritten Mal
wegen Misshandlung angezeigt hatte. Vorher musste sie die
Akte dazu ansehen. Sie lag in der Dokumentenablage auf ihrem Schreibtisch. Sie schaute wieder auf die Uhr. Der Stapel aus Piteå war interessanter. Zum ersten Mal seit dem Winter empfand sie einer Aufgabe gegenüber so etwas wie Vorfreude. Sie ließ sich auf ihren Stuhl sinken und begann, im obersten Ordner zu blättern.
Das Opfer hieß Ylva Marieanne Malmberg, geboren am 30. September 1954, wohnhaft in der Sandgärdsgatan in
Västerås. Schülerin der Tärna Folkhögskola zwischen 1977
und 1979. Sie hatte Kurse in Entwicklungshilfe und Kunsthandwerk belegt. Elina suchte in den Papierbergen nach einem Foto der Frau, um ein Bild vor Augen zu haben, während sie weiterlas. Sie stieß auf eine vergilbte Plastikmappe. Auch die Fotos waren ein wenig verfärbt. Auf dem obersten Bild waren drei lachende Mädchen zu sehen, oder handelte es sich bereits um Frauen? Sie fragte sich, welches von ihnen Ylva Malmberg war. Auf dem nächsten Bild saß eine Frau an einer Schreibmaschine und lächelte in die Kamera. Auf die Rückseite hatte jemand, vermutlich ein Ermittlungsbeamter, »Ylva M.« geschrieben. Die Frau hatte langes, glattes Haar, weder dunkel noch hell, und trug einen gestrickten Pullover. Recht hübsch, dachte Elina. Aber auch recht durchschnittlich.
In einer Broschüre, in der alle Schülerinnen und Schüler
der Tärna Folkhögskola des Jahres 1978 abgebildet waren,
kniete Ylva Malmberg neben vier anderen Frauen. Hinter
ihnen standen vornübergebeugt drei Jungen, oder handelte
es sich bereits um Männer? Einer von ihnen stützte sich auf Ylvas Schultern ab. Er hatte langes, blondes Haar, trug einen Rollkragenpullover und sah recht kindlich aus.
Sie warf erneut einen Blick auf die Uhr. Es war fast halb elf. Mit einem Seufzer legte sie die Fotos beiseite und griff nach der Dokumentenablage auf dem Schreibtisch.
Der Frau, die vor Elina Platz genommen hatte, fehlten oben
zwei Zähne, und über ihrem linken Auge hatte sich die Haut
blau, gelb und rot verfärbt. Das Auge war blutunterlaufen.
Sie sah zehn Jahre älter aus, als sie tatsächlich war. Elina hatte sie vor einem Jahr schon einmal getroffen. Der Grund war derselbe gewesen. Ihr Mann war zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden und es war ihm untersagt worden, sich ihr zu nähern, aber sie war freiwillig zu ihm zurückgekehrt. Genau wie sie es bereits nach der ersten Verurteilung wegen Körperverletzung getan hatte.
»Dieses Mal verlasse ich ihn«, sagte sie. »Ich hoffe, er
schmort in der Hölle. Schauen Sie sich nur meine Zähne
an!«
»Warum sind Sie denn das letzte Mal zurückgekehrt?«,
fragte Elina, obwohl sie die Antwort kannte.
»Er hatte versprochen, dass es nie wieder vorkommen würde.
Ich weiß, ich bin eine dumme Gans. Schließlich verspricht
er es jedes Mal.«
»Die erste Verurteilung war 1999«, erklärte Elina, »also vor fünf Jahren. Sie sind seit vierzehn Jahren verheiratet. Wann hat er Sie zum ersten Mal geschlagen?«
»In den Flitterwochen. Wir waren auf den Kanarischen Inseln, und er war betrunkener als je zuvor.«
Sie beugte sich zu Elina vor. »Ich habe ihn damals nicht
angezeigt, aber ein paar Jahre später habe ich es dann getan. Er stritt alles ab, und die Polizei hat das Verfahren eingestellt. Es kümmerte einfach niemanden. Dann gab es irgendwie kein Zurück mehr, irgendwie. Ich kam nicht weg. Wenn Sie ihn schon beim ersten Mal eingebuchtet hätten, wäre es nicht soweit gekommen.«
Elina nickte. Sie konnte ihr nur recht geben.
Als die Frau wieder gegangen war und sie das Verhör protokolliert hatte, nahm Elina sich die Akten aus Piteå wieder vor und las den restlichen Nachmittag darin. Es fiel ihr immer schwerer, nicht in dem Fall aufzugehen; ihr Gehirn arbeitete wie ferngesteuert. Unbewusst begann sie nach Lücken in der Ermittlung zu suchen, nach Fehlern, die ihre Kollegen gemacht hatten. Ylva Marieanne Malmberg war von zwei Skiläufern in der Nähe von Jäkkvik, einem kleinen Ort etwa achtzig Kilometer von der norwegischen Grenze entfernt, gefunden worden. Die Kopie einer Landkarte lag den Akten bei, und der Fundort war mit einem Kreuz markiert. Er lag ganz in der Nähe des Fernwanderwegs Kungsleden, der an Jäkkvik vorbeiführte. Elina war nie in diesem Teil des Fjälls gewesen und konnte sich daher die Gegend nicht besonders gut vorstellen.
Dem Gerichtsmediziner zufolge hatte die Leiche mindestens
ein halbes Jahr dort gelegen. Als man sie entdeckt hatte,
war sie fast komplett mit Schnee bedeckt gewesen. Elina fuhr mit dem Finger über die Zeilen des medizinischen Gutachtens, versuchte sich einen Reim darauf zu machen und den Fachjargon in allgemein verständliches Schwedisch zu übertragen.
Plötzlich zog sie ihren Finger zurück, als habe sie sich verbrannt. Die Beine des Opfers… wiesen Spuren von Fangzähnen auf. Die Abdrücke waren charakteristisch. Elina schauderte: Ein Wolf hatte an Ylva Malmbergs Waden genagt. Das war nach Eintritt des Todes passiert. Sie war zweimal von Raubtieren angefallen worden, das erste Mal war sie noch am Leben gewesen.
Sie legte die Papiere beiseite. Ihre Hand zitterte leicht.
Nach einigen Minuten setzte sie ihre Lektüre fort.
Die Frau war erdrosselt worden, genau wie Kärnlund
gesagt hatte. Da so viel Zeit bis zum Auffinden der Leiche
verstrichen war, hatte man verschiedene Zeugenaussagen
mit Funden vom Mordplatz in Zusammenhang gebracht, um
einen offiziellen Todestag zu bestimmen. Das war der 1. Oktober 1979.
Kärnlund hatte Unrecht gehabt, der Mord war nicht in
den Achtzigerjahren begangen worden, sondern 1979… vor
bald fünfundzwanzig Jahren. Elina warf einen Blick auf ihren Tischkalender. Freitag, der 3. September 2004. Sie rechnete zurück. Bis zum fünfundzwanzigsten Jahrestag waren es noch 27 Tage. Danach war der Mord verjährt. In genau drei Wochen und sechs Tagen würde der Mörder ungeschoren davonkommen. Falls er nicht vorher gefasst wurde.
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