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Der Sonntagsmann
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Kapitel 4

So kann das nicht weitergehen. Ich muss mich zusammenreißen.


Elina Wiik starrte aus dem Fenster ihres Büros im Polizeipräsidium. Vor ihr stapelten sich die Ordner mit ungelösten Fällen. Jeder einzelne schien sie anzuklagen.

Acht Monate waren vergangen, seit Elina Annika Liljas
und Jamal AlSharifs Mörder gefasst hatte. Das war 2003 gewesen, am Tag vor Heiligabend.

Anfänglich hatte sie sich noch rational verhalten, als wäre nichts passiert, als könnte sie auch weiterhin Polizistin bleiben, ohne dass sich etwas verändert hatte. Dass ihr Leben bedroht wurde, tangierte sie nicht, schließlich war es nicht das erste Mal. Die Animositäten innerhalb des Präsidiums perlten an ihr ab. Ihre psychische Verfassung war unerschütterlich. Ein weiterer goldener Stern in ihrem Lebenslauf, etwas mehr
Aufmerksamkeit von Seiten der Medien, das war alles.

Dann war in ihrem Privatleben Tabula rasa gemacht worden.
Danach war ihr alles entglitten. Oder vielleicht hatte sie
auch freiwillig losgelassen, nachgegeben, sich treiben lassen. Nur der Autopilot hatte sie davor bewahrt, jenseits des Horizonts zu verschwinden.

Es war nicht einmal eine Qual gewesen. Eher interessant.
Manchmal hatte sie es sogar genossen. Es hatte sie immer
gereizt, ihre inneren Türen zu öffnen, doch sie war jedesmal davor zurückgeschreckt. Der Frühling und der Sommer waren wie ein stürmisches Meer gewesen, und sie hatte noch keinen festen Boden unter den Füßen.

Jetzt war der Sommer zu Ende, es war bald September, aber
immer noch warm. Wie gewohnt war sie früh auf, sie hatte
noch größere Schlafprobleme als früher. Jeden Morgen machte sie einen Spaziergang. Eine halbe Stunde, manchmal länger. Das war die schönste Zeit des Tages. Um halb acht hatte sie ihre Bürotür aufgeschlossen und sich an den Schreibtisch gesetzt. Vermutlich würde dieser Tag genau wie der vorhergehende verlaufen. Sie wusste, dass sie sich endlich wieder in den Griff kriegen musste, hatte aber keine Ahnung, wie.

Es klopfte leise, und sie rief: »Herein!« John Rosén öffnete die Tür. Er war Chef für die Ermittlungen der »Mordgruppe«, einer Spezialeinheit, die die komplizierteren Mordfälle in der Provinz lösen sollte. Er schloss die Tür hinter sich und hielt inne. Elina fand, dass er irgendwie bedrückt wirkte. »Hast du schon gehört?«, fragte er. Elina schüttelte den Kopf. Sie hatte
nichts von dem gehört, was John ihr offenbar zu berichten
hatte. Ein neuer Mordfall? Elina spürte ein erwartungsvolles Kribbeln.

»Es geht um Kärnlund. Er hatte einen Herzinfarkt.«

Elina griff sich an die Brust.

»Er hat ihn überlebt«, fuhr Rosén fort, »aber ich glaube, es ist ziemlich schlimm.«

Egon Jönsson konnte bei der AchtUhrBesprechung
Genaueres berichten. Es war am Vorabend gegen zehn passiert. Oskar Kärnlund war plötzlich vor dem Fernseher zusammengesackt. Der Krankenwagen war schnell zur Stelle gewesen, was ihm das Leben gerettet hatte. Sein Zustand war jedoch kritisch.


Sie sammelten Geld für einen Blumenstrauß, 280 Kronen.
Die vierzehn anwesenden Kriminalbeamten entschieden,
dass Jönsson, Kärnlunds Nachfolger als Dezernatschef, und
Elina Wiik, die einzige Frau ihrer Einheit, so bald wie möglich ins Krankenhaus fahren sollten. Elina versprach, sich um die Blumen zu kümmern.

Beim Verlassen des Präsidiums wurde sie von John Rosén
eingeholt. »Ich begleite dich in den Blumenladen«, sagte er.

Sie gingen über den Svartån Richtung Zentrum zu dem
Blumengeschäft im umgebauten Domushaus. Es war ein
strahlend schöner Morgen mit berauschend klarer Luft, einer dieser allerersten Herbsttage. Aber die zufriedenen Gesichter der Passanten ärgerten Elina. Wussten die denn nicht, was passiert war?

»Das ist so schrecklich, dass es mir die Sprache verschlägt«, meinte sie. »Er ist doch erst vor einem halben Jahr in Rente gegangen. Er darf einfach noch nicht sterben. Das wäre nicht gerecht.«

»Kärnlund ist so schnell nicht kleinzukriegen«, erwiderte
Rosén. »Ein Herzinfarkt bringt so einen Mann nicht gleich
um. Er wird es schon schaffen.«

Elina schüttelte den Kopf. »Ich fahre gleich hin. Ich werde so lange dort sitzen bleiben, bis die Krise überstanden ist.«

»Mach das«, meinte Rosén, »er mag dich.«

»Oskar Kärnlund hat immer an mich geglaubt.«

»Ich weiß.«

»Deswegen habe ich jetzt auch vor, an ihn zu glauben.«

Egon Jönsson fand, es sei noch zu früh, ins Krankenhaus zu
fahren. Sie würden nur im Weg sein und vielleicht auch Kärnlunds Frau stören. Vermutlich wollte sie mit ihrem Mann allein sein. Dann gab er jedoch Elinas Entschlossenheit nach. Gemeinsam betraten sie die Intensivstation der Kardiologie und fragten sich zu Kärnlunds Zimmer durch. Mit einer Sauerstoffmaske vor dem Gesicht lag Oskar Kärnlund im Bett, reglos und nichts um sich herum wahrnehmend, aber das Kardiogramm neben ihm zeigte, dass er noch am Leben war. Vera Kärnlund saß bedrückt auf einem Stuhl. Sie wirkte schmächtig und gab den Besuchern schweigend die Hand, als sie eintraten.

Drei Tage später saß Elina Wiik allein an Oskar Kärnlunds
Bett. Vera Kärnlund hatte zwei Tage und Nächte bei ihm gewacht, immer nur kurz geschlafen und war schließlich nach Hause gefahren, um nicht auch noch ihre eigene Gesundheit zu riskieren. Elina hatte zweimal am Tag vorbeigeschaut, war eine halbe oder eine ganze Stunde geblieben, hatte aber auch nichts anderes tun können, als abzuwarten. Jetzt hatte sie Vera versprochen, einige Stunden zu bleiben.

Schwer und grau lag Oskar Kärnlund im Bett. Er schien zu
schlafen, aber plötzlich schlug er die Augen auf und drehte seinen Kopf in Elinas Richtung.

»Sitzt du immer noch hier?«

»Wusstest du, dass ich hier war?«

»Natürlich, ich habe dich schon gestern gesehen. Das war
abends, nicht wahr?«

»Du bist über den Berg, Oskar. Die Ärzte meinen, dass du
wieder gesund wirst. Weißt du das schon?«

Er lächelte schwach.

»Ich glaube, du hast mich zum ersten Mal mit Oskar angesprochen.«

»So ist das nun mal mit diesem Polizistenjargon, man
nennt sich eben beim Nachnamen. Für mich warst du immer
nur Kärnlund.«

»Im Augenblick habe ich nicht mal das Kommando über
mich selbst. Es ist wirklich fürchterlich.«

Elina wollte ihre Hand auf die Seine legen, wollte ihm sagen, es werde alles wieder gut, aber Oskar Kärnlund wandte den Kopf zur Seite und schloss die Augen.

Als sie ihn zwei Tage später besuchte, saß er bereits im Aufenthaltsraum der Station in einem Rollstuhl.

»Vera hat mir erzählt, dass du mich mehrmals täglich besucht hast, während ich bewusstlos war. Vielen
Dank.

»Das ganze Dezernat hat sich Sorgen gemacht. Wie geht
es dir heute?«

»Die Ärzte finden, dass ich einen Bypass brauche. Ich muss
wohl noch eine Weile bleiben. Sie wollen die Sache im Auge
behalten, sagen sie. Die Operation ist in ein paar Wochen.
Dann ist alles wieder wie vorher. Ich werde wieder der Alte. Als wäre das so erstrebenswert.«

Er fuhr fort, noch ehe Elina etwas erwidern konnte.

»Als ich erwachte, kamen mir als erstes Vera und Nils und
seine beiden kleinen Mädchen in den Sinn. Als Nils klein
war, habe ich eigentlich nur gearbeitet. Vera hat sich um ihn gekümmert. Diese Zeit wünsche ich mir manchmal zurück.
Aber jetzt ist es zu spät.«

»Und die Mädchen? Kannst du nicht mehr Zeit mit ihnen
verbringen?«

»Es ist schon wahr. Wenn es ans Sterben geht, wird das
ganze Leben noch einmal vor einem abgespult. Man rechnet
mit sich selbst ab, ohne Wenn und Aber. Man wird brutal ehrlich. Diese Tage … es war nicht leicht, sie zu überleben.«

»Du wirst nicht sterben«, sagte Elina und merkte sofort,
dass sie falsch reagierte. Oskar Kärnlund sprach von seinem Leben und nicht von seinem Tod. »Geh nicht zu hart mit dir ins Gericht«, meinte sie dann.

»Weißt du«, überlegte er und sah ihr durchdringend in die
Augen, als sei der Kommissar wieder in ihm erwacht, »ich
dachte an meine Familie, aber da ist noch ein anderes Gesicht aufgetaucht.«

»Und das wäre?«

»Das einer Frau.«

»Die du mal geliebt hast?«, fragte Elina rasch und ohne
nachzudenken.

»Nein, aus einem Fall. Lange her. Frühe Achtziger ungefähr, ich erinnere mich nicht mehr genau. Es handelte sich um eine junge Frau. Sie ist in der Wildnis gefunden worden, irgendwo in Norrbotten. Ein Kollege von dort oben hat die Ermittlung geleitet. Sie war allerdings wohnhaft in Västerås, deswegen bin ich am Rande auch an dem Fall beteiligt gewesen.«

»Und im Einzelnen?«

»Erdrosselt, wenn ich mich recht entsinne. Die Leiche war
jedoch schon sehr stark verwest gewesen. Sie hatte mehrere
Monate lang im Freien gelegen. Wir haben alle verhört,
die sie irgendwie gekannt hatten, haben aber nicht einmal jemanden gefunden, den wir hätten verdächtigen können. Der
Fall wurde nie gelöst.«

»Und weshalb musstest du ausgerechnet jetzt an sie denken?«

Er versuchte zu lächeln und verzog dabei das Gesicht.

»Vielleicht weil es sich um ein weiteres Versagen meinerseits handelt.«

John Rosén erhob sich und öffnete die Tür, als Elina anklopfte. Er war der einzige im Präsidium, der nie »Herein« rief, wenn ihn jemand in seinem Büro aufsuchte. Er rückte sogar den Stuhl für Elina zurecht. Roséns Höflichkeit war bei allen Angestellten des Präsidiums bekannt und hoch geschätzt.

»Wie geht es ihm?«

»Besser. Jedenfalls physisch. Aber er wirkt niedergeschlagen.«

»Vermutlich ist niemandem nach Lachen zumute, wenn er
so brutal an die Endlichkeit des Lebens erinnert wird.«

»Wir haben uns recht lange unterhalten. Er erzählte sogar
von einer alten Mordsache.«

»Fehlt ihm die Arbeit?«

»Ich glaube schon. Als er letzten Winter aufhörte, hat er
sich darauf gefreut, endlich Zeit für sich zu haben. Das behauptete er zumindest. Aber du weißt ja, wie Kärnlund ist. Er ist durch und durch Polizist. Mit der Arbeit verschwanden auch die Kollegen. Vermutlich war das recht einsam.«

»Über welchen Fall hat er gesprochen?«

Ȇber den Mord an einer gewissen Ylva Malmberg. Eine
junge Frau. Ich hatte noch nie von der Sache gehört, aber der Fall liegt auch recht lange zurück, vor meiner Zeit. Offenbar wurde der Mörder nie gefunden. Ich dachte… ich schaue mir die Sache mal an.«

John Rosén lächelte. »Um Kärnlund aufzumuntern?«

»Ja, warum nicht? Die Frau wohnte hier in der Stadt, aber
die Tat geschah in Norrbotten. Wo liegen denn die Akten?«

»Wenn niemand mehr an dem Fall arbeitet, dann liegen sie
vermutlich im Archiv. Hast du Norrbotten gesagt?«

Er drehte sich um und zog ein Verzeichnis aus dem Bücherregal.

»Die Akten müssten in Piteå sein. Die Polizei dort verwaltet das Archiv der gesamten Provinz. Schreib dir die Telefonnummer doch einfach auf.«

Elina nahm sich einen Kugelschreiber vom Tisch. »Danke«, sagte sie und erhob sich.

»Elina«, meinte Rosén. »Das ist wirklich nett von dir, Kärnlund auf andere Gedanken bringen zu wollen. Aber sieh zu, dass du das nicht während der regulären Arbeitszeit tust. Das ist nicht unser Fall, und du kennst unsere Anweisungen. Wenn wir nicht gerade in einer Mordsache ermitteln, müssen wir uns genau wie alle anderen um die Routineangelegenheiten kümmern.«

»Nichts könnte mich davon abhalten, mich mit ganzer
Seele den Einbrüchen und Körperverletzungen, die sich auf
meinem Schreibtisch türmen, zu widmen«, erwiderte Elina.

»Vergiss es nur nicht«, erwiderte Rosén.

Vorsichtig machte sie die Tür hinter sich zu. Das war nicht nur ein beiläufiger Hinweis, dachte sie. Sie war drauf und dran, noch einmal umzukehren, um ihn zu fragen, was er eigentlich damit gemeint hatte, besann sich dann aber eines Besseren. Im Grunde wollte sie es gar nicht wissen.

 

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