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Der tote winkel
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Kapitel 5

Der Wald hatte Augen. Bereits am Tag danach verständigte
ein Waldarbeiter wegen des alten VWs die Polizei. »Der Wagen steht schon seit gestern dort. Vielleicht hat sich ja irgendjemand beim Pilzepflücken verirrt?«, hatte er dem Diensthabenden auf der Wache von Västerås erklärt. Dieser hatte die Kriminalpolizei verständigt, und Oskar Kärnlund hatte Henrik Svalberg gebeten, der Sache nachzugehen. Svalberg war eines von vier Mitgliedern der Mordgruppe, musste sich aber genau wie Elina um Routinefälle kümmern, wenn keine Morde vorlagen.
Eine rasche Nachfrage bei der Zulassungsstelle ergab, dass
der Volkswagen, ein blauer Passat, Baujahr 198 5, Annika Lilja, Jahrgang 1979, gehörte, die in der Stenåldersgatan 31 in Västerås wohnte. Eine Vierundzwanzigjährige aus Bjurhovda.
Svalberg schlug »Lilja« im Telefonbuch auf, aber bei Annika
ging niemand an den Apparat. Dann setzte er seine Nachforschungen telefonisch fort. Die Eltern hießen Lennart und Disa und wohnten in der Fornminnesgatan. Beide Anfang fünfzig, Branthovda. Svalberg stellte fest, dass sowohl der Straßenname der Eltern als auch der der Tochter mit Geschichte zu tun hatte, ohne jedoch daraus irgendeinen besonderen Schluss ziehen zu können.
»Lennart Lilja«, sagte eine Stimme am anderen Ende der
Leitung.
»Hier ist Henrik Svalberg von der Polizei Västerås. Entschuldigen Sie bitte die Störung. Ich hätte gerne mit Ihrer Tochter Annika gesprochen, falls diese bei Ihnen ist.«
»Annika wohnt schon seit einigen Jahren nicht mehr bei
uns. Worum geht es denn?«
Svalberg erzählte, dass ihr Auto gefunden worden war und
dass bei Annika zu Hause niemand ans Telefon ging. Er merkte, dass der Vater sofort hellhörig wurde.
»Vielleicht ist der Wagen ja gestohlen worden«, meinte
Lennart Lilja, merkte aber dann sofort selbst an: »Obwohl,
das hätte Annika bemerken müssen. Sie fährt meistens mit
dem Auto zur Arbeit.«
Die Unruhe des Vaters drang durch den Telefonhörer zu
Svalberg durch. Dieser stellte die logische Folgefrage: »Wo
arbeitet sie denn?«
»In einer Werbeagentur.«
Er gab Svalberg die Telefonnummer.
»Hat sie einen Freund? Vielleicht hat sie ja bei ihrem
Freund übernachtet und nicht bemerkt, dass ihr Wagen gestohlen worden ist?«
»Wenn sie ihn besucht, fährt sie immer mit ihrem Wagen
dorthin.«
»Wer ist ihr Freund?«
»Er wohnt in Skiljebo. Sie sind jetzt seit ungefähr einem
halben Jahr zusammen. Er heißt Jamal Al-Sharif. Ich habe keine Telefonnummer von ihm.«
Svalberg versprach, sich wieder zu melden, und legte auf.
Er schaute auf die Uhr und wartete genau eine Minute lang.
Dann rief er bei der Werbeagentur an.
»Sie ist nicht hier«, sagte jemand namens Niklas. »Sie ist
heute nicht in die Agentur gekommen, hat sich aber auch
nicht entschuldigt. Ihr Vater hat vor einigen Sekunden angerufen und genau dasselbe gefragt.«
Vater wusste nichts, schrieb Svalberg auf seinen Block.
Dann suchte er im Telefonbuch nach dem Nachnamen Al-
Sharif. Fehlanzeige. Er gab die Daten in seinen Computer ein.
Jamal Al-Sharif, 77 0101-9030. Svalberg suchte weiter: Geburtsort Gaza, Israel. Palästinenser. Aufenthaltsgenehmigung seit dem 15. Oktober 2000. Keine Vorstrafen. Auf der Fahndungsliste tauchte er ebenfalls nicht auf.
Mit dem Auto fuhr er zur Stigbergsgatan. Niemand öffnete,
als er klingelte. Er läutete an der Nachbartür, ein Nachbar
mit einem ausländischen Nachnamen. Der Nachbar hatte Jamal
seit vergangenem Samstag nicht mehr gesehen, also vor
zwei Tagen zum letzten Mal.
Zurück im Präsidium betrat Svalberg das Büro von Elina
Wiik.
»Beschäftigt?«
»Setz dich.«
»Das hier ist vielleicht unerheblich, aber ich muss jetzt einen Entscheidung treffen. Seit gestern steht auf dem Weg, der zwischen Skultuna und Lillhärad durch den Wald führt, ein Auto. Es gehört einer Vierundzwanzigjährigen. Sie hat heute unentschuldigt bei der Arbeit gefehlt. Ihr Freund ist möglicherweise ebenfalls verschwunden. Der Vater macht sich Sorgen, sagt, das sei nicht ihre Art. Sie heißt Annika Lilja.«
»Wir müssen nach ihr suchen.«
»Das ist auch mein Gedanke. Und da dachte ich an dich.
Du hast doch vor zwei Jahren Bertil Adolfsson im Grünen gefunden. Wie macht man so was?«
»Man fängt damit an, dass man das Herrchen von Boss anruft.
Den Schäferhund Boss mit dem guten Geruchssinn und sein Herrchen, Hundeführer Magnus Carlén. Wenn es uns heute nicht gelingt, die Frau mit ihrer Hilfe zu finden, verständigen wir einen Suchtrupp.«
Boss schlug an. Es waren zwei Stunden und fünfundfünfzig
Minuten vergangen, seit Elina Wiik mit Polizeiassistent Magnus Carlén gesprochen hatte. »Boss ist Leichenspezialist«,
hatte Carlén gesagt. »Handelt es sich um Tote oder einfach
um Leute, die sich verlaufen haben?«
»Leute, die sich verlaufen haben«, hatte Elina geantwortet.
»Hoffe ich zumindest.«
Sie hatten sich bei dem VW verabredet. Carlén und Boss
kamen aus der einen Richtung, Elina und Svalberg aus der
anderen. Boss wedelte mit dem Schwanz. Mit einem einzigen
Handgriff öffnete Carlén die verschlossene Autotür und ließ
Boss die Witterung aufnehmen.
»Such!«
Der Hund zog an der Leine, und es ging in den Wald. Es
duftete nach feuchtem Farn, und für Ende September war es
recht warm. Carlén trug kräftige Gummistiefel. Elina fragte
sich, warum sie immer vergaß, gescheite Schuhe anzuziehen.
Magnus Carlén gab dem eifrigen Hund mehr Leine. »Boss
hat eine Fährte aufgenommen, bald finden wir etwas«, sagte
er.
Der Trupp eilte über Stock und Stein, Elina und Svalberg
hatten Mühe, bei dem Tempo mitzuhalten. Tannenzweige zerschrammten
Elina das Gesicht. Plötzlich öffnete sich der dichte
Wald zu einem Abhang. Der Hund bellte und zog noch heftiger
an der Leine.
Svalberg und Elina erblickten ihn gleichzeitig. Einen
schmächtigen Körper in Jeans und Jeansjacke mit dem Gesicht
zur Erde. Sein Haar war schwarz und am Hinterkopf
verfilzt und verklebt. Carlén hielt Boss zurück. Elina trat vor und tastete nach dem Puls des am Boden Liegenden. Am Hals spürte sie nichts. Sie tastete nach der Gesäßtasche. Ihre Hand zitterte etwas. Keine Brieftasche. Dann erhob sie sich und sah sich um. Einige Sekunden lang waren nur das schwache Rauschen der Baumwipfel und das Surren eines Insekts zu hören.
»Such, Boss, such!«, sagte Magnus Carlén und schluckte.
Eifrig setzte sich Boss wieder in Bewegung, den Hang hinauf
und auf der anderen Seite wieder hinunter. Dort lag sie, ebenfalls mit dem Gesicht nach unten. Die Arme in dem grünen Regenmantel parallel zum Körper. Ein Stiefel ragte wie ein hohler Baumstumpf aus dem Sumpf. Den anderen trug sie noch am Fuß.
Elina atmete schwer, nicht nur, weil sie sich körperlich angestrengt hatte. Tote sollten nicht einfach so im Wald verstreut liegen, dachte sie und sträubte sich innerlich gegen das Bild, das sich ihr bot.
Henrik Svalberg und Elina zogen Schuhe und Strümpfe
aus, krempelten die Hosenbeine hoch, untersuchten die Position der beiden Leichen zueinander und gingen dann, jeder für sich, in einem großen Bogen auf die tote junge Frau zu, um sich ihr aus zwei Richtungen zu nähern. Neben ihrem blonden, blutigen Kopf trafen sie sich wieder. Svalberg tastete nach ihrer Halsschlagader. Tot. Elina durchsuchte vorsichtig ihre Taschen. Sie fand eine Krankenversicherungskarte der Provinz Västmanland. Sie war auf Annika Lilja ausgestellt.
Erkki Määttä und Per Eriksson von der Spurensicherung trafen gefolgt von zwei Streifenwagen in weniger als einer halben Stunde am Waldrand ein. Sie warfen einen raschen Blick auf den VW, dann begleitete Svalberg die Kriminaltechniker und eine der Streifenwagenbesatzungen zu den Leichen.
Määttä widmete sich der Frau, Eriksson dem Mann, dessen
Identität noch unklar war, obwohl das Aussehen des Opfers
durchaus dafür sprach, dass es sich dabei um Jamal Al-Sharif handelte. Die beiden Polizisten in Uniform begannen damit, den Tatort abzusperren.
»Habt ihr etwas gefunden, was als Mordwaffe hätte dienen
können?«, fragte Määttä.
»Um was könnte es sich deiner Meinung nach handeln?«,
fragte Elina zurück.
»Einen stumpfen Gegenstand. Vielleicht einen Stein oder
irgendein Werkzeug. Aber such nicht jetzt danach. Wir müssen erst die Fußabdrücke sichern. Wer das getan hat, muss ihnen auf den Fersen gewesen sein.«
Elina sah sich um, ohne sich von der Stelle zu bewegen.
Sie konnte in der dichten Vegetation nichts Bedrohliches entdecken.
»Ich lasse dann den Leichenwagen kommen, wenn ich mit
den Opfern fertig bin«, sagte Määttä, während er weiter seine Arbeit verrichtete. »Vermutlich in einer Stunde. In anderthalb Stunden könnt ihr die Toten dann identifizieren lassen.«
»Und alles andere?«
»Das wird noch Tage dauern. Vielleicht auch Wochen. Wie
lange habt ihr gebraucht, um hierher zu gelangen? Zwanzig
Minuten? Wir müssen den ganzen Weg vom Auto bis hierher
absuchen.«
Elina und Svalberg klingelten bei den Liljas in der Fornminnesgatan.
Sie hatten entschieden, dass Elina das Wort übernehmen
sollte, obwohl Svalberg als Erster Kontakt mit Lennart
Lilja aufgenommen hatte. Sie hatten beide den Eindruck,
dass eine Frau geeigneter war, eine Trauerbotschaft zu überbringen.
Außerdem bekleidete Elina einen höheren Rang als
Svalberg, sie war Kriminalinspektorin und er nur Kriminalassistent.
Das war eine Art Respektsbezeugung den Hinterbliebenen
gegenüber.
Elina bat darum, eintreten zu dürfen, und beantwortete
Lennart Liljas Frage nicht, die dieser bereits in der Tür
stellte. Mit einer zitternden Handbewegung führte er sie ins Wohnzimmer, in dem eine beigefarbene, geblümte Couchgarnitur stand. Ein dicker Teppich bedeckte das Parkett und auf dem Bücherregal waren Fotos zu sehen. Die Fensterbank zur Terrasse schmückten große Topfpflanzen. Die
Gartenmöbel waren noch nicht weggeräumt worden. Ein gemütliches Zuhause, Sekunden bevor sich alles verändern
würde.
Eine Frau saß auf der Kante eines Sessels. Sie schwieg und
schien fürchterlich angespannt zu sein.
»Wir haben uns beide freigenommen«, sagte Lennart Lilja.
»Wir hatten nicht die Kraft, zur Arbeit zu gehen, solange
wir nicht wissen, wo Annika ist. Haben Sie etwas in Erfahrung gebracht?«
Er sah Elina an, und sein Blick flehte um Gnade. Sagen Sie,
dass sie in Sicherheit ist, bitte, bitte, sagen Sie nichts anderes!
»Ich muss Sie auf das Schlimmste vorbereiten«, sagte Elina.
Die Frau auf der Sesselkante hielt den Atem an. »Ich muss Sie bitten, uns zu begleiten. Es geht darum, eine Person zu identifizieren.
Wir haben eine Frau gefunden … eine Tote, die Ihre
Tochter sein könnte.«
Der Mann kniete sich vor seiner Frau hin, umarmte sie und
begann zu weinen. Die Miene der Frau war wie erstarrt. Elina zog sich mit Henrik Svalberg in den hinteren Teil des Raumes zurück.
»Ruf einen Krankenwagen«, sagte sie leise. »Sag ihnen, wir
haben eine Patientin im akuten Schockzustand.«
Lennart Lilja stand reglos vor der Bahre mit der Leiche seiner Tochter. Elina berührte ihn von hinten an beiden Armen, verweilte einen Augenblick und führte ihn dann behutsam weiter.
Als er den Mann auf der Bahre erblickte, sprach er mit
fast unhörbarer Stimme den Namen »Jamal« aus. »Jamal Al-
Sharif?«, fragte Elina. Lennart Lilja nickte.
Elina hielt ihre Hände immer noch an seinen Armen, jetzt
aber nicht mehr so fest. Sie wollte etwas sagen, ihn trösten, aber ihr fehlten die Worte.
Annikas Vater ließ den Kopf hängen. Die Vernehmung wird
nicht einfach, dachte Elina. Aber wir können nicht warten.
»Herr Lilja«, sagte sie. »Ich werde dafür sorgen, dass Ihnen ein Arzt sofort etwas verschreibt.«
»Ich brauche nichts«, antwortete er. »Ich muss Disa helfen.«
Er schwankte. Elina stützte ihn. Sie nickte Svalberg zu,
der hinter ihr stand. Gemeinsam fuhren sie ins Zentralkrankenhaus.
Sie ließen Lennart Lilja mit seiner Frau, die einen
Schwächeanfall erlitten hatte, allein. Nach zehn Minuten
klopfte Elina vorsichtig an die Tür. Lennart Lilja lag auf dem Fußboden. Svalberg rannte los, um Hilfe zu holen.
Er bekam das Bett neben seiner Frau. Beide waren nicht
ansprechbar.
»Wir müssen den Täter finden«, meinte Elina, als sie wieder
bei ihrem Wagen waren. »Und zwar schnell. Der Vorsprung
darf nicht zu groß werden.« Sie schaute auf die Uhr. »Schon
halb vier. Wenn der Typ, der wegen des Volkswagens anrief,
Recht hat, dann müssten die Morde gestern irgendwann um
die Mittagszeit verübt worden sein. Dann hat er, entschuldige, es kann sich natürlich auch eine um eine Sie handeln, oder es können mehrere gewesen sein, also der oder die Täter hätten somit über vierundzwanzig Stunden Vorsprung.«
»Fürchterlich, findest du nicht auch?«, meinte Svalberg,
aber mehr zu sich. »Eine so junge Frau, und der Mann natürlich auch. Aber irgendwie fand ich es schlimmer, das Mädchen dort liegen zu sehen.«
»Ich weiß nicht, was schrecklicher ist. Aber es war das
Fürchterlichste, was ich bislang gesehen habe. In meinem
ganzen Leben. Geschlachtet wie Opferlämmer.«
»Vielleicht hatte sie ja Geschwister? Und er könnte hier
eventuell Verwandte haben. Wir müssen damit anfangen, ihre
Angehörigen ausfindig zu machen. Wo Annika Lilja gearbeitet
hat, weiß ich, aber seinen Arbeitsplatz kenne ich nicht, falls er überhaupt einen Job hatte.«
»Rosén und Enquist warten auf der Wache auf uns. Kärnlund hat versucht, so viele Leute wie möglich vom Dezernat
zusammenzutrommeln.«
Neun Männer und eine Frau versammelten sich im Besprechungszimmer im zweiten Stock. Oskar Kärnlund saß an der Schmalseite des ovalen Tisches. Er war noch übergewichtiger geworden. Zu seiner Linken hatte Egon Jönsson Platz genommen, der sein absolutes Gegenteil war. Er hätte hinter Kärnlund ohne weiteres verschwinden können. Erik Enquist war von der Kripo Hallstahammar an die Mordgruppe delegiert worden. Er schien die Gegend, in der er lebte, besser zu kennen als sich selbst. John Rosén war Chef der Mordgruppe. Er war noch keine fünfzig, aber schon vollkommen grau. Sein Blick besaß allerdings immer noch eine jugendliche Schärfe, Frauen behandelte er altmodisch höflich, und seinem Beruf und seinen Kollegen gegenüber wahrte er stets eine gewisse Distanz. Trotzdem wurde er wie selbstverständlich als »Kapitän« der Mordgruppe wahrgenommen. Jan Niklasson erfüllte
immer seine Aufgaben, nicht weniger, aber auch nicht
mehr. Erkki Määttä, dem Kriminaltechniker aus dem Tornedalen, entging nur selten etwas. Sein Kollege Per Eriksson war aus demselben Holz geschnitzt wie er, nur etwas reservierter.
Dann kamen Henrik Svalberg und Elina. Neben Elina
saß ein großer Mann um die fünfundvierzig, der sein Bein auf den Stuhl ausgestreckt hatte. Der andere Fuß ruhte auf dem Boden. Er hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Elina konnte sich erinnern, ihn schon gelegentlich im Präsidium gesehen zu haben, wusste aber nicht, wie er hieß.
»Das hier ist Axel Bäckman«, sagte Kärnlund und machte
eine rasche Handbewegung in Richtung des Neuankömmlings.
»Er arbeitet bei der Ermittlungsbereitschaft und war die
letzten Jahre bei der Sicherheitspolizei tätig. Davor gehörte er einer Abteilung an, die man vielleicht als die Ausländerpolizei hier in der Provinz bezeichnen könnte. Er hatte mit einem der Opfer zu tun …«
Kärnlund beugte sich vor und setzte seine Lesebrille auf.
»Al-Sharif. Als Bäckman erfuhr, was geschehen war, bot er
uns seine Hilfe an, und ich glaube, dass uns seine Kenntnisse bei der Ermittlung durchaus nützen können. Wir müssen das nur noch von oberster Stelle genehmigen lassen. Wenn wir schon dabei sind, kannst du auch gleich erzählen, was du weißt, Bäckman.«
»Jamal Al-Sharif kam 1998 aus Gaza hierher«, begann Axel
Bäckman. »Ich führte die erste Vernehmung durch, nachdem
er seinen Asylantrag gestellt hatte. Damals behauptete er, er hätte einer Menschenrechtsorganisation angehört, und sowohl die palästinensischen Behörden in Gaza als auch die israelische Polizei würden wegen seiner politischen Aktivitäten nach ihm fahnden. In den darauffolgenden Verhören kam es zu Widersprüchen, und da er seine Verfolgung nicht belegen konnte, wurde seine Ausweisung beschlossen. Ehe es jedoch dazu kam, tauchte er unter. Er wurde von einer Flüchtlingsorganisation versteckt. Das alte Lied also.«
Er nahm sein Bein vom Stuhl und fuhr fort:
»Aber vor drei Jahren tauchte ein Dokument auf, das bestätigte, dass sich die Israelis wirklich für ihn interessierten. Ob dieses Dokument echt war oder nicht, sei dahingestellt. Egal, jedenfalls war das im Herbst 2000. Die Existenz dieses Dokuments sprach sich, wie auch immer das passieren konnte, zur Zeitung Länstidningen rum, die mächtig auf die Tränendrüse drückte. Da damals die Kämpfe im Nahen Osten gerade wieder aufflammten und man Al-Sharif nur über Israel wieder nach Gaza hätte zurückschicken können, durfte er bleiben. Er erhielt im Oktober 2000 eine Aufenthaltsgenehmigung.«
»Also ein politischer Flüchtling aus einem Krisengebiet«,
sagte Kärnlund. »Wissen wir, welcher Art seine Beziehung zu
dem Mädchen war?«
»Er war ihr Verlobter«, antwortete Svalberg. »Viel mehr
haben wir bislang nicht in Erfahrung bringen können. Ihre
Eltern liegen mit Schock im Krankenhaus. Wir haben sonst
noch niemanden ausfindig gemacht, der die beiden kannte.«
»Okay«, sagte Kärnlund. »Määttä?«
»Beiden wurde der Schädel eingeschlagen. Offenbar mit
der Rückseite einer Axt. Wir suchen noch. An den Kleidern
war nichts Auffälliges festzustellen. In dem sumpfigen Boden, dort, wo die Frau lag, fanden sich recht deutliche Spuren, Abdrücke von relativ großen Schuhen, Schuhgröße 45 oder so. Also vermutlich ein Mann. Wir suchen, so gut es geht, in dem Waldstück, wo der Wagen stand, und an dem Fundort der Leichen weiter. Leider handelt es sich um ein großes Areal, und wir wissen nicht genau, wo die Opfer entlanggegangen sind. Der einzige Anhaltspunkt ist die Spur, der Boss durch den Wald gefolgt ist. Carlén war klug genug oder besaß genügend Erfahrung, um sich genau an die Wegwahl seines Hundes zu erinnern. Das Auto haben wir abschleppen lassen.
Morgen sehen wir es uns genauer an. Da es bald zu dunkel ist, um im Freien weiterzusuchen, beabsichtigen wir, heute Abend schon mit ihren Wohnungen anzufangen.«
»Also nichts«, stellte Kärnlund fest, »abgesehen von den
Schuhen Größe 45.«
»Um genau zu sein: 45-46«, korrigierte sich Määttä.
Jönsson hatte bislang geschwiegen.
»Ich habe vor, persönlich an dieser Ermittlung teilzunehmen
«, sagte er.
Der Frischbeförderte hatte gesprochen. Elina sah John
Rosén an. Jetzt würde es sich entscheiden.
»Wenn du Zeit hast, ausgezeichnet«, sagte Rosén. »Als Leiter der Mordgruppe begrüße ich jegliche Unterstützung.«
Jönsson antwortete nicht. Der Konflikt wurde durch Kärnlund
entschärft.
»John! Die Planung!«
»Niklasson und Jönsson fahren mit Per Eriksson in die
Wohnung des Mädchens. Wiik und Svalberg nehmen sich mit
Määttä Jamals Wohnung vor. Enquist, Bäckman und ich ermitteln von hier aus. Wie versuchen, so viele Leute wie möglich ausfindig zu machen, die das Paar kannten, um sie zu befragen. Sobald die Wohnungen durchsucht sind, treffen wir uns wieder hier.«
»Versteckt«, meinte Elina und wandte sich an Axel Bäckman.
»Weißt du von wem?«
»Nein, leider nicht.«
»Das müssen Leute sein, die Jamal recht gut gekannt haben,
wenn er zwei Jahre lang bei ihnen gewohnt hat.«
»Wenn es die ganze Zeit dieselben Leute waren, dann
schon. Aber selbst das weiß ich nicht.«
»Vielleicht wissen diese Leute ja, ob Jamal bedroht wurde.«
»Die Polizei ist nicht gerade gut Freund mit Leuten, die
Flüchtlinge verstecken. Wenn die wissen, dass wir über sie Bescheid wissen, dann können sie ihre Sommerhäuser und Wohnungen nicht mehr so gut als Versteckplätze nutzen. Aber es gibt eine Organisation, deren Vertreter namentlich bekannt sind. Wir müssen ihnen halt erklären, wie die Sachlage ist, und können dann hoffen, dass sie mit uns zusammenarbeiten.«
»Welche Leute beschäftigen sich mit so etwas?«, fragte Enquist.
»Ich meine, Flüchtlinge verstecken?«
»Ganz normale Schweden. Idealisten. Oft Leute, die in der
Kirche aktiv sind.«
»Wir müssen alle Quellen anzapfen«, meinte Kärnlund.
»Wir wissen nicht, ob er oder sie oder vielleicht alle beide die eigentlichen Opfer waren. Wer weiß, worum es hier in Wirklichkeit geht. Ein Eifersuchtsdrama. Eine rassistisch motivierte Tat. Vielleicht etwas Politisches, wenn man an den Hintergrund denkt. Vielleicht auch nur eine Abrechnung unter Kriminellen. Jamal war vielleicht nicht ganz unbescholten und ist nur durch Zufall bislang nicht in unseren Fahndungslisten aufgetaucht. Wir wissen überhaupt nichts. So, und jetzt fangen wir an.«
Määttä öffnete mühelos mit einem Dietrich die Wohnungstür
in der Stigbergsgatan. Die Zweizimmerwohnung war so gut
wie unmöbliert. Kahle Wände. Keine Teppiche. Keine Gardinen.
In der Diele hing eine Jacke an der Garderobe. Auf dem
Boden standen ein Paar Schuhe. Im Schlafzimmer ein Bett
und ein Kleiderschrank. Die Einrichtung des Wohnzimmers
bestand aus einer Couch, einem Fernseher und einem Ikea-
Regal. Im obersten Regalfach fanden sich ein paar gerahmte
Fotografien. Weiter unten lag ein Stapel Zeitungen. In der
Küche stand ein Tisch mit zwei Stühlen, und im Badezimmer
gab es Körperpflegeprodukte, einen Eimer, einen Schrubber
und Putzmittel in Plastikflaschen. In der Wohnung hatte ein
Mensch mit bescheidenen Bedürfnissen gelebt.
»Spartanisch«, sagte Määttä. »Das Sichern der Fingerabdrücke wird etwas dauern. Aber das hat Zeit bis später.«
»Ja«, erwiderte Elina. »Fingerabdrücke sind erst dann von
Interesse, wenn wir einen Verdächtigen haben. Aber lass uns
erst mal schauen, was es sonst so alles gibt.«
Sie zog ein paar dünne Plastikhandschuhe über und öffnete
den Kleiderschrank im Schlafzimmer. Unterwäsche, ein paar
Hemden, Hosen. Ganz unten stand ein Staubsauger. Sie ging
ins Wohnzimmer und betrachtete die Fotos. Ein ernster Mann
mit Schnurrbart und Palästinensertuch um den Kopf. Eine lächelnde Frau mit Kopftuch. Zwei junge Männer in Hemd und
Hose. Eine junge, stark geschminkte Frau vor einem Haus aus
grauem Beton. Alle posierten vor der Kamera, stumme Zeugen
der Sehnsucht und des Verlusts.
Die Familie, dachte Elina. Wo erreichen wir sie? Annikas
Eltern wissen das vielleicht. Wenn sie wieder ansprechbar
sind.
Svalberg kam aus der Küche.
»Nur Küchenkram«, sagte er. »Habt ihr was gefunden?«
»Nichts«, sagte Määttä. »Nichts, was sich lohnt, es für weitere Untersuchungen mitzunehmen.«
Die drei standen in dem kahlen Wohnzimmer. Die Luft
schien sich zu verdichten. Eine unheimliche Atmosphäre umgab sie, das spürten alle.
»Da stimmt was nicht«, brach Elina das schweigen. »Irgendwas an dieser Wohnung stimmt nicht.«
»Ja.« Määttä nickte. »So etwas ist mir noch nie untergekommen.«
»Jamal hatte keine Brieftasche bei sich, als wir ihn fanden. Auch kein Handy. Das ließe sich dadurch erklären, dass der Mörder seine Opfer beraubt hat. Aber hier gibt es keine Papiere, kein Geld, keine Kontoauszüge, kein Telefon, keine Rechnungen, es gibt überhaupt keine Spuren von Leben. Nichts.«
»Entweder lebte er von Luft oder jemand hat die Wohnung
ausgeräumt«, meinte Määttä. »Mir ist, wie gesagt, so eine leere Wohnung nicht mehr untergekommen, seit ich aus meiner
letzten Wohnung ausgezogen bin.«
»Lasst uns mit den Fingerabdrücken anfangen«, meinte Elina
und griff zu ihrem Mobiltelefon. Sie wählte eine Nummer
und machte sich einige Notizen. Dann wählte sie eine weitere Nummer und wechselte ein paar Sätze mit der Person am anderen Ende der Leitung.
»Er hatte ein Vodafone-Handy. In einer Stunde faxen sie
uns die Liste der Nummern, die er angerufen hat.«
»Jetzt hast du vermutlich die Arbeit von Enquist und … wie
heißt er noch mal … erledigt.«
»Axel Bäckman. Dann bekommen wir die Liste eben zweimal.
So what?«
Annika Liljas Wohnung war gemütlich eingerichtet gewesen,
wie Elina Roséns Beschreibung entnahm, als sich die Gruppe wieder im Präsidium versammelte. Dort hatten sich auch
ein Pass, persönliche Unterlagen und Rechnungen gefunden,
eben alles, was in einer normalen Wohnung herumlag. Aber
Spuren, die auf das Wer und Warum hingewiesen hätten, hatten sie nicht entdeckt.
Enquist und Bäckman, die versucht hatten, anhand von
Computern und Telefonaten Informationen über die Opfer
zu sammeln, hatten rasch in Erfahrung gebracht, dass Annika
Lilja einen zwei Jahre jüngeren Bruder namens Gustav hatte.
Enquist war sofort zu ihm nach Hause gefahren.
»Das Ganze ist ihm unbegreiflich«, erzählte Enquist, als er
sich zu den anderen gesellte. Er blätterte in einem Notizblock.
»Ich habe nicht sehr viel aus ihm herausbekommen. Er war
vollkommen mit den Nerven fertig. Annika und Jamal haben
sich in einem Restaurant kennengelernt und sind vor etwa
einem halben Jahr ein Paar geworden. Jamal hat Schwedischkurse für Einwanderer an der Volkshochschule besucht und Teilzeit in diesem Einwandererladen am Kopparbergsvägen gearbeitet. Er sei nett und sympathisch gewesen, sagt der Bruder. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Jamal kriminell oder an irgendwelchen zwielichtigen Geschäften beteiligt gewesen sein könnte. Seine Schwester arbeitete seit einem Jahr bei einer Werbeagentur. Ich habe den Namen ihres Chefs notiert.
Von irgendeinem Ärger mit irgendwelchen Exfreunden war
Gustav Lilja nichts bekannt. Er hat mir die Namen der beiden Freunde vor Jamal genannt. Weder Annika noch Jamal waren Mitglieder irgendwelcher politischer Vereinigungen, zumindest wusste er nichts davon. Aber er sagte auch, dass er sie nicht sonderlich oft getroffen hat.«
»Jamal besitzt, soweit bekannt, keinerlei Verwandtschaft
in Schweden«, sagte Axel Bäckman. »Die Migrationsbehörde
will uns seine Akte faxen.«
Elina sah Bäckman an.
»Du sagst, seine Akte. Du hast doch vorhin erzählt, es hät-
te eine Pressekampagne gegeben, damit er in Schweden bleiben dürfe. Das muss doch passiert sein, während er sich noch versteckt hielt?«
»Natürlich, das versteht sich.«
»Ist Jamal von der Länstidningen interviewt worden?«
»Ja, … soweit ich mich erinnern kann, schon. Es gab da Fotos von ihm.«
»Der Reporter muss wissen, wer ihn versteckt hat. Sollten
wir uns nicht mit ihm oder ihr unterhalten?«
»Ruf bei der Länstidningen an und bitte um die Artikel«,
meinte Rosén. »Kannst du das gleich machen, Elina?«
Kärnlund seufzte.
»Das erinnert mich daran, dass wir eine Mitteilung an die
Presse machen müssen. Ein Doppelmord lässt sich nicht unbedingt geheim halten. Sollen wir Jamals Angehörige in Gaza in Kenntnis setzen? Oder was sollen wir da unternehmen?«
»In der Akte stehen die Namen und die Adresse der Eltern
«, meinte Bäckman. »Wir verständigen das schwedische
Konsulat in Jerusalem.«
»Sobald ich mir die Zeitungsausschnitte über Jamal von der
Länstidningen zukommen lasse, haben sie dort auch seinen
Namen«, sagte Elina.
»Das ist ohnehin nur eine Frage der Zeit«, erwiderte Kärnlund.
»Kümmer dich gleich drum, Wiik.«

 

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